Samstag, 23. Februar 2008

Herzblut Venedig - Leseprobe

Das Gesicht

All das Vergangene in den runden Säulen der Kirchen, all die geweinten Tränen, all die Hoffnungen, die in den gelben Lilien die Buchten hinunter schwimmen, in den zerrissenen alten Brückenbögen hängen bleiben, in den Balustraden aufbewahrt werden für kommende Geschlechter; alles dies kam auf mich zu, als ich dich rufen hörte im weißen Nebel über der Stadt.
Aus den kleinen Tonplatten der Treppchen rollten die gefrorenen Blutstropfen der Seidenstoffe und Damaste, stiegen die Düfte auf von Zimt, von Ingwer, von Kardamom. Der kräftig derbe Eselsgeruch vom Pistill der Lilien, das süße Zerren von Rosenfeldern aus Arabien mischten sich unter den Fischgeruch der Weiber auf dem Markt.
Das heiße Flittern über den Dächern verflüchtigte sich in die Brunnen der Innenhöfe, Rotweinflecken auf Tischtüchern wurden mit Salz bestreut, die Kellner rieselten über die lautlosen Teppichböden, die auf dem kühlen Marmor ein staubiges Dasein fristeten. Es gab keine Zukunft, keine Vergangenheit. Die Zeit schien dehnbar geworden wie ein Gummiband.
Ich kannte dein Gesicht schon immer. Ich hatte es in meinen Träumen gesehen, in meinem Blut gehabt, bevor ich Begriffe bilden konnte, bevor ich wusste, dass ich ihm in Venedig wieder begegnen würde im porösen Gestein, im verdorrten Gras am Campanile.

download pressekit